Kritiken

 


Die kluge Jungfer benimmt sich daneben

 

Mit einer Fabel von James Thurber fing alles an. Schüler und Schülerinnen der Robert-Koch-Oberschule führten "The very proper gander" (Der anständige Gänserich) auf - auch zu verstehen als "Propaganda". Nicht alle Zuschauer konnten englisch, und so verlegte man sich auf andere, gerade im Schülertheater oft vernachlässigte Darstellungsmittel: Mimik, Gestik und Musik. Daraus entwickelte die von Ilka-Cordula Felcht angeleitete Gruppe "The Wild Bunch" eine Bildersprache, die weit über gewöhnliches, unbeholfenes Schüler-Spiel hinausgeht. Seit mehr als zehn Jahren besteht nun die AG, hier arbeiten die Interessiertesten aus den regulären Kursen auf freiwilliger Basis zusammen..

"Geschichten auf der Bühne erzählen, Geschichten von uns, das ist mein Motor für diese Arbeit", sagt Ilka-Cordula Felcht. Als Vorlage dazu dient vielleicht eine eigene "Kurzfassung" von "Hamlet" oder ein ganz einfaches Märchen, auch schon mal ein Stummfilm. In Improvisationen spielt man sich an das Thema heran, zunächst ohne eine realistische Szenenvorstellungen. Der Satz "Das ist nicht möglich" etwa kann Anlaß für die vielfältigsten Körper- und Kommunikationsübungen sein. "Warm ups" mit Gymnastik- und Atemtraining sind Voraussetzungen für bewußte Körperempfindungen, von denen auf die "innere Haltung" geschlossen wird.

Tabus gibt es dabei nicht. Theater darf alles sein, was die cleane und coole Alltagspose verbietet: laut, dreckig und häßlich. "Die kluge Jungfer", die jüngste Produktion des "wilden Haufens", plädiert so für eine Art "neue Liebesunordnung", in der alle Gefühle ernstgenommen werden. Um die Hand der "wunderschönen, aber starrköpfigen" Königstochter bewerben sich drei Freier, und entgegen der in allen deutschen Schlagern verordneten Entscheidungskonvention will sie auch alle drei.

Trotzdem, eine "Bettszene" erschien der Guppe dann doch nicht angemessen, vor allem, weil hier die Unterschiede zwischen den Altersgruppen bedeutsam wurden. Neben Siebtkläßlern gibt es auch Dreißigjährige, die der Theaterarbeit nach dem Schulabgang treu blieben.

Der Ruf der Gruppe ist mittlerweile über die Grenzen Kreuzbergs gedrungen, regelmäßig tritt sie bei der Theaterwoche Korbach auf. Besondere Furore machte 1990 "Das Kabinett des Dr. Caligari", in dem die Ästhetik des Stummfilms auf raffinierte Weise auf die Bühne übertragen wurde. Neben englischem, holländischem und - neuerdings - auch polnischen Jugendaustausch gab es Einladungen zum europäischen Jugendtheater-Treffen im belgischen St. Vith - eigentlich eine Profi-Veranstaltung. Und zwei Mitglieder befinden sich zur Zeit tatsächlich in der prfessionellen Schauspieler-Ausbildung. Doch für die meisten steht die Schule im Mittelpunkt und nach dem Abitur eine "normale" Ausbildung.

Dabei wäre es hilfreich, wenn auch das Gymnasium diese Arbeit als Ausgleich zur trockenen Kopfarbeit noch stärker akzeptieren würde, zumal sie Disziplin und Engagement verlangt, soziale Fähigkeiten fördert und - ganz nebenbei - auch noch beachtliche künstlerische Leistungen hervorbringt. Ilka-Cordula Felcht hält sie als Einübung in Stehvermögen und Konfliktfähigkeit gerade in Kreuzberg für eminent wichtig. "Es gibt so viele Anti-Gewalt-Programme", meint sie, "aber wer Theater spielt, schlägt niemand zusammen."

Isabel Herzfeld
DER TAGESSPIEGEL ,17.12.1993


Eine "kluge Jungfer"

Korbach . Eine vielbeachtete Aufführung von "Die kluge Jungfer" - frei nach Fernán Caballero - gab es im Rahmen der Theaterwoche in Korbach zu sehen.

Ideenreich
The Wild Bunch (der wilde Haufen), eine Theater-AG des Robert-Koch-Gymnasiums in Berlin, brachte das Stück in einer ideenreichen, nonchallanten Inszenierung von Ilka-Cordula Felcht auf die Bühne, in der das Wort zugusnten von Mimik, Gestik und Körpersprache zurücktrat. Manche Szenen waren fast ballethaft choreographiert. Kongenial die Musik dazu von Birgit Wieland und Lucas Illing.

 Dreierbeziehung
Eine Frau und drei Männer. Das gibt es nicht nur im Märchen. Aber als Märchen ist dieses Stück aufgebaut und in Szene gesetzt. Wie im Leben, so muß die Geschichte auch im Märchen tragisch enden. Es ist schon bemerkenswert, wie ernsthaft Felcht sich mit diesem Thema auseinandersetzt und es dabei in eine Form bringt, die die Heiterkeit der Zuschauer aufs äußerste erregt. Wenn zum Beispiel der Vater sagt: "..., sagte der Vater", dann wirkt das schon fast surrealistisch.

Profihaft
Nici Albrecht, die die kluge Jungfer spielte, muß herausgehoben werden. Sie spielte ausdrucksstark, fast wie ein Profi. Die manchmal absichtlich zu dick aufgetragene Naivität der Jungfer wirkte, weil komisch, dennoch glaubhaft. Sie ist ein echtes Talent, das sich vielleicht der Bühne ganz zuwenden sollte.

Gefeiert
So wurde das Stück und die darstellerische Leistung des ganzen Ensembles vom recht zahlrechen Publikum am Ende stürmisch bejubelt.

Manfred Büsching
Korbacher Stadtanzeiger , 14.Mai 1994



Tolles Theater ohne große Worte

KORBACH (kh.) "The Wild Bunch" aus Berlin - vom Titel her, ein "Wilder Haufen", bei der Aufführung in der Korbacher Stadthalle jedoch ein absolut harmonisches Ensemble, das durch große Spielfreude und ungeheure Musikalität das Publikum in seinen Bann zog.

Die Geschichte von der klugen Jungfer, das ist ein zauberhaftes Märchen von einem Mädchen, das drei Männer heiraten will. Die Jungfer ist frech und gerissen, denn sie schafft es, ihren Vater zu überzeugen. Siehst Du, ich brauch' sie alle drei", behauptet sie am Ende selbstsicher.

Doch bis es soweit ist, werden die Freier natürlich erstmal auf die Probe gestellt. Geschenke sollen sie bringen, die auf der Welt einmalig sind. Ein alter Mann hilft dabei: Er verkauft Freier Nummer eins einen Spiegel, der einem genau das zeigt, was man sehen will. Freier Nummer zwei bringt als Brautgeschenk einen Zaubertrunk mit nach Hause, der Tote wieder zum Leben erwecken kann, und der dritte Werber ersteht vom gleichen alten Mann einen Koffer, der seinen Besitzer in Null Komma nichts an jeden gewünschten Ort dieser Erde bringen kann.

Während die drei Männer unterwegs sind, stirbt die Jungfer jedoch vor Kummer und Gram. Und so kommen just alle drei Geschenke zum Einsatz. Die "männertolle" Braut lebt, und der Vater willigt in die Dreierhochzeit ein.

Doch was heißt hier eigentlich "männertoll"? Der Vater, der sich selbst gern als Moralapostel sehen würde, begegnet dem anderen Geschlecht auch nicht gerade mit Abneigung. Er treibt seine Spielchen mit einer Postbotin und zwei kecken Hausmädchen.

Eine Handlung, von der man vielleicht im ersten Moment meinen mag, sie gebe wenig her, es handele sich dabei um den Stoff, aus dem nahezu jedes Märchen gemacht ist. Der "Wilde Haufen" aus Berlin belehrte die zahlreichen Zuschauer jedoch schnell eines Besseren. Die Laienspieler, obwohl das Wort Laie fast nicht mehr gerechtfertigt ist, füllten diese Story mit Leben, mit Phantasie und großer Motivation.

Jede Rolle schien dem einzelnen auf den Leib geschneidert. Kein Wunder, denn jeder Spieler hatte seinen Part fast vollständig selbst kreiert, viel Eigenes mit hineingesteckt. Vorgegeben war lediglich die Rahmenhandlung. Und trotz der guten schauspielerischen Einzelleistungen war das Zusammenspiel riesig. Da gab es keinen Durchhänger, da fiel keiner aus der Rolle, es paßte einfach alles.

In der Aufführung war zudem ein stetiger Wechsel aus Bewegung und Verharren, im Vordergrund standen Gestik und Mimik. Lange Dialoge und große Worte blieben außen vor. Schön unterstrichen wurde diese Aufführung von zwei Musikern an Klavier und Querflöte, die es neben den Schauspielern schafftgen, das Publikum in eine fröhliche und gelassene Stimmung zu versetzen.

Am Ende gab es jedenfalls langanhaltenden Applaus. Einige der Spielerinnen und Spieler standen vor Freude die Tränen in den Augen. Sie wußten, wie gut sie gewesen waren.

Kerstin Hälbig
Waldeckische Landeszeitung , 14.Mai 1994


Wunschzettel einer Frau: Drei Männer

St. Vith. - Spielfreude, viel Bewegung, passende Live-Musik, guter Rhythmus und hohes Tempo kennzeichneten die Aufführung "Die kluge Jungfer" des 18köpfigen quirligen Kreuzberger "The Wild Bunch" (englisch für "Wilder Haufen") am gestrigen Montagnachmittag in der gut besetzten Aula des Athenäums von St.Vith.

Drei Verehrer bewerben sich um die Gunst eines jungen Mädchens. Ihr Vater lehnt ab und schict die drei in die weite Welt auf die Suche nach etwas Einzigartigem. Sie finden und kaufen dort: einen Spiegel, in dem man die erwünschte Person sehen kann; einen Balsam, der Tote zum Leben erweckt und einen Koffer, der einen an jedes gewünschte Ziel bringt.

Auf Freiersfüßen
Im Spiegel entdecken sie das tote Mädchen und den trauernden Vater, mit dem Koffer reisen sie zu ihr und erwecken sie mit dem Balsam zu erneutem Leben. Sie beweist damit ihrem Vater, daß sie alle drei Freier braucht...

"The Wild Bunch" unter der Regie von Ilka Felcht existiert als freie Theater Arbeitsgemeinschaft am Robert-Koch-Gymnasium in Berlin-Kreuzberg seit über zehn Jahren. Sie bevorzugt die nichtverbalen, körperlichen und musikalischen Ausdrucksmittel.

Spiel und Distanz
Empfangen wurde das Publikum durch ein mehr oder weniger statisches Bild, das sich aber sehr rasch in Leben verwandelte, sobald das Publikum installiert war. Drei Engel (Angeli(ae) exmachina?) mit Feder-Fächern bestimmen mit ihrem Erzählten den Ablauf der Handlung. Piano und Querflöte begleiten dies alles hervorragend: gut ausgewählte Klavier-Etüden, ja sogar auszugsweise George Gershwins "Raphsody in Blue" wurden dazu bemüht. Die durch die Figuren erzählten Passagen schaffen die notwendige Distanz zum Spiel.

Respektlosigkeit
Musik, Tanz, rasche Bewegungsabläufe stehen im textarmen Bühnengeschehen zentral. Selbst die drei anregenden "Traum"-Frauen vermochten nicht, den Vater in seiner Entscheidung umzustimmen. Statt dessen gipfelt die Vater-Tochter-Beziehung in einen "handfesten" Generationskonflikt.

Ein deutlicher, aber schnell vorübergehender Bruch in der Bühnenleistung wurde allerdings spürbar, nachdem ein gutes Dutzend ebenso unüberhörbar wie unübersehbar zuspätgekommener Schüler sich in die erste (!) Reihe niedergesetzt hatten. Welch ein Respekt den Schauspielern gegenüber!

Langer Applaus war schließlich die verdiente Belohnung für eine rundum gelungene Aufführung.

Helmut Hilgers
GRENZECHO , 09.11.1993

 


 

Bericht über die Korbacher Theaterwoche '94 (Auszug)

(...)

Bearbeitete Märchen bildeten mehrmals die Grundlage für dass Spielgeschehen. "The Wild Bunch" /Berlin bediente sich eines spanischen Märchens von Fernan Caballero "Die kluge Jungfrau"; die Geschichte eines Mädchens, das alle drei Freier heiraten will. Eine köstliche Fabel. Eigensinnig beharrt die Tochter auf ihrem Wunsch; der Vater ist entsetzt über diese Unmoral. Im Traum vergnügt er sich aber mit der Postbotin und den beiden Hausmädchen. Die Freier sollen Geschenke bringen, die auf der Welt einmalig sind. Der eine erhandelt einen Spiegel, der genau zeigt, was man sehen will. Der andere bringt einen Zaubertrunk, der Tote lebendig macht. Und der dritte ersteht einen fliegenden Koffer. Wie nützlich diese Dinge sind , erweist sich am Schluß. Drei Engel beobachten das turbulente Treiben; einer schießt einen Pfeil ab, und das Mädchen sinkt tot zu Boden. Die drei Brautgeschenke sorgen für das Happy-End. "Siehst du, ich brauche sie alle drei!"; jetzt ist der Vater überzeugt.

Das Spiel kommt so leichtfüßig daher, daß die Zuschauer beschwingt und heiter den Saal verlassen. Im Orginalmärchen stirbt das Mädchen. Für die Umgestaltung wurden märchenhafte Figuren hinzuerdacht. Nicht zum erstenmal begeisterten die Berliner mit ihrer Spielform, die weitgehend auf gesprochenen Text verzichtet und sich durch Mimik und Gestik ausdrückt.

(...)

Inge Peroutka-Häusler
Auschnitt aus einem Bericht über die Korbach `94
Spiel & Theater, November 1994

 


Nachbemerkungen zum "Theatertreffen der Jugend" '94 Berlin (Auszug)

(...)

- "Die kluge Jungfer" - "Wild Bunch" Theater-AG am Robert-Koch-Gymnasium Berlin-Kreuzberg. Dem wilden Haufen, einschließlich der Spielleiterin Ilka-Cordula Felcht, darf man getrost ein Etikett aufdrücken: Lustspieler! Erzählt wird immer eine Geschichte, hier die von der recht unkonventionellen Jungfer, die alle drei Verehrer als einen Männerharem nimmt, weil sie sich in ihren Eigenschaften so schön ergänzen. Tja, warum eigentlich nicht, aber halt ein Märchen! Und weil man schon dabei ist, und auch andere Personen und deren Darsteller Lust haben, entstehen weritere Einzelgeschichten. So darf auch der einsichtige Vater - es lebe die Männeremanzipation und gleiches Recht für alle - auch drei weibliche Wesen um sich scharen. Die Story beginnt zu wuchern; es entstehen lauter, kleine Gemälde. Gemalt wird mit den Körpern, die Sprache rduziert sich auf ein Mindestmaß, akustisch wirken in erster Linie Rhytmus und Melodie. Der Spaß an der Bewegung und am Aufbau von Tableaus steht im Vordergrund; da kann es natürlich schon auch passieren, daß man, weil es halt gar so schön läuft, noch eins dreufsetzt, etwas zu lange verweilt und das Timing ins Wackeln kommt. Aber die Gruppe, die da in wohlgeordnetem Chaos über die Bühne bolzt, beherrscht ihr Handwerk; der Produktion merkt man die Entwicklung aus den Improvisationsübungen positiv an; die teilweise schon recht "alten Hasen" ziehen die Neulinge mit, so daß trotz der eindeutigen Stars der Truppe doch eine äußerst farbige, homogene Ensembleleistung entsteht. Das Märchen als Mittel, pralle Lebensfülle zu demonstrieren!

(...)

Winfried Steinl
Ausschnitt (Theatertreffen der Jungend `94)
Spiel & Theater, November 1994


Die Jury über ihre Auswahl (zum Theatertreffen der Jugend):

Man nehme: ein altes Märchen, zerlege es fein säuberlich in mittelgroße Streifen, würze es kräftig mit phantasievollen Spieleinfällen, füge großzügig einen gehörigen Schuß beschwingt-animierender Live-Musik hinzu und tauche es in ungebändigte Spiellust jugendlicher Darsteller.

Dieses Patentrezept garantiert leider nicht zwangsläufig einen lukullischen Genuß! Im Falle der "klugen Jungfer" kann man sich allerdings getrost den Spaß auf der Zunge zergehen lassen.

Als temperamentvolles Bewegungstheater, die Geschichte eines Mädchens, das sich nicht zwischen drei Freiern entscheiden will, sondern alles drei nimmt. Ganz vorsichtig berühren sie Sehnsüchte, die wohl jeder kennt. Mit viel Witz und Verstand, jedoch ohne zu moralisieren, werden überholte Konventionen kritisiert.

Ö. Ates


 15. Theatertreffen der Jugend startete mit einer klugen Jungfer

Bis zum 4. Juni zeigt das Festival zehn Stücke

Welche Frau genießt es nicht in vollen Zügen, zahlreiche Verehrer um sich zu scharen? Gleich mehrmals bewundert und vor allem verwöhnt zu werden, hält jedoch meist nicht lange an. Denn frau muß sich für einen Mann entscheiden. So will es unsere Gesellschaft, und so will es das Gesetz. Als sich der Bühnenvorhang für das 15. Theatertreffen der Jugend '94 in der Wabe im Prenzlauer Berg hob, wurde gleich beim Auftaktstück "Die kluge Jungfer" an diesen Konventionen gerüttelt.

Nach einem Märchen von Fernan Caballero präsentierten "The Wild Bunch", die Theater AG am Robert-Koch-Gymnasium in Kreuzberg, ein phantasievolles Stück Theaterkunst, das sich der Zuschauer auf der Zunge zergehen lassen konnte.

Um die Hand eines Mädchens, eigensinnig und selbstbewußt, halten drei Freier an. Und - sie will alle drei Männer haben. Aber der Vater will seine Tochter nur an denjenigen geben, der ihm von einer Reise das Außerordentlichste mitbringt.

Der eingebildete Schnösel erwirbt einen Zaubertrunk, das Landbübchen einen Trunk, der Tote zum Leben erweckt, und der Bauerntölpel einen Koffer, mit dem man sofort zum auserwählten Ziel gelangt.

Inzwischen ist die holde Jungfer aber ermordet worden, der Vater trauert. Die Wunderutensilien führen die drei Verlobten jedoch zum Mädchen zurück und erwecken es zum Leben. Das Ende: "Vater, siehst Du nun, daß ich alle drei brauche?", so die Tochter, während der Vater sich von der Postbotin, dem Hausmädchen und der Putzfrau verwöhnen läßt...

Viel Text wird dem Publikum nicht geboten, und für die wenigen Einlagen sind hauptsächlich drei Engel zuständig, die den Lauf der Dinge übrigens bedeutend beeinflussen. Dafür glänzt das Stück durch Mimik und Temperament der 14- bis 18jährigen. An typisches Schülertheater erinnert diese Vorstellung nicht, denn sie zeigt beachtliches Niveau.

(...)

Valerie von Schulthess
Berliner Morgenpost
(29. Mai 1994)


Erst mal toben

Bienenfleißig: 15. Theatertreffen der Jugend eröffnet

Pünktlich zum Prolog begann es zur regnen. Durch den Ernst-Thälmann-Park strich der Wind, die auf dem weitläufigen Gelände verstreuten Kultur- und Veranstaltungshäuser lagen da wie am Strand angespülte Wale. Ein der Verpflegung und Kommunikation dienendes Zelt glich einem verwaisten Ort im Nirgendwo. Drüben in der Wabe aber, diesem bienenstockartigen Gebäude, wuselte die Theaterjugend erwartungsfroh durcheinander.

Eben noch, im ritterlich-nostalgischen Turmzimmer des Kulturhauses am Prenzlauer Berg, hatte Ulrich Eckhardt, der Intendant der Berliner Festspiele GmbH, bei einer Pressekonferenz von den "idealen Bedingungen" geschwärmt, die dem 15. Theatertreffen der Jugend heir geboten würden. Und Christel Hoffmann, die Leiterin des Festivals, hatte etwas pathetisch ausgerufen: "Das Theater lebt."

Gern und geduldig ließen die aus deutschen Landen angereisten Jugendlichen die unvermeidlichen Reden eines Senats- und eines Sprechers des Bundesbildungsministeriums über sich ergehen. Schließlich stehen diese Institutionen, das wußten die Kids, dafür ein, das das Festival der vermeintlich besten Schüler- und Jugendtheater jedes Jahr wieder einen finanziell gut ausgestattete Reise nach Berlin wert ist. Daran soll sich, so war aus offiziellem Munde zu hören, auch nichts ändern. Zu wichtig sei das Theaterspiel, wie Bundesminister Laermann mit Rückgriff auf Schiller in einem Grußwort schreibt, zur "Ausbildung des Empfindungsvermögens" und zur Entwicklung der "mannigfaltigen Anlagen".

Die in der Wabe angetretene Auswahl - von 190 in Augenschein genommen Theaterproduktionen wurden schließlich zehn für festivaltauglich erklärt - vernahm dies alles mit halbem Ohr und wartete nervös kichernd auf ihren Auftritt. Denn bevor "The Wild Bunch" , die Theater-AG des Robert-Koch-Gymnaisums aus Kreuzberg, ihre Bühnenfassung des Caballero-Märchens "Die kluge Jungfer" als ersten Beitrag zeigen durfte, konnte sich jede Gruppe erst einmal einige Minuten auf der Bühne austoben. Daß dabei von zwei zur Auswahl stehenden Texten sich leider fast alle für jenem vom schreienden Kind und den verzweifelt-genervten Eltern entschieden hatten, was machte des schon. Der Spaß war jedenfalls riesengroß.

Doch dann kam die Gruppe DIN aus Meerane, und mit ihr hatte der Klamauk ein Ende. Plötzlich nämlich (sic!) traktiert eine vom ewigen Kindergeschrei verstörte Mutter ein als Endlosgeplärr fungierendes Tonbandgerät mit Tritten und schließlich sogar mit der Axt. Derweil zitiert ein anonym-voyeuristischer Mob genüßlich aus den Boulevard-Gezatten Balken-Überschriften wie "Folterkammer Wohnzimmer". Bamberg läßt grüßen.

Weil so viel Wirklichkeit schmerzt, versuchte "The Wild Bunch" es dann mit minisch-gestischer Leichtigkeit. Doch "Die kluge Jungfer", seien wir ehrlich, ist nicht vile mehr als ein von Klavier- und Flötenmusik begleitetes Getobe. Und wären unter den 19 Darstellern nicht diese beiden außerordentlichen Bühnenbegabungen, die Parabel von der Kraft der Wünsche (und seien es auch drei Männer für eine Tochter) wäre wahrlich kaum der Rede wert. Zwei Mädchen aber, ein für ihr Alter sehr großes und ein für ihr Alter recht kleines, ragen wie Lichtgestalten aus dem allgemeinen Tohuwabohu heraus. Wenn diese beiden auf der Bühne stehen, ist die leere Spielfläche plötzlich ausgefüllt. Während die eine ihrem Körper katzenartig beherrscht, weiß die andere mit minimalen Augen- und Mundbewegungen wortlose Geschichten zu erzählen.

Für die meisten der aus Kassel oder Kölleda, aus Frankfurt am Main oder Mühlhausen angereisten Theatergruppen werden die neun Festivaltage eine Fete ohne Ende sein, ein bunter Reigen aus flüchtigen Begegnungen und leinen Flirts, unterbrochen allenfalls von kurzen Theater-Workshops und kulturellen Stadtrundgängen. Für einige Jugendliche aber wird das Theatertreffen etwas mehr sein, vielleicht, wie für die beiden kreuzberger Schülerinnen, ein Stück Offenbarung der eigenen Fähigkeiten, vielleicht, wie für die Kooperation von "Phönix" aus Charlottenburg mit "Klaps" aus dem polnischen Bialystok, ein Stück erprobter Zukunft in einem Europa des grenzenlosen Miteinanders.

Frank Dietschreit
Der Tagesspiegel
(29. Mai 1994)


Auch Gewalt hat eine Faszination

Wieviel Pädagogik verträgt Schultheater? Bericht vom 15. Theatertreffen der Jugend

Eigentlich zu schön, um wahr zu sein: "Unsere Jugend" beschäftigt sich nicht nur gewaltfrei, sondern - in den heutigen Videoclip- und Gameboy-Zeiten erstaunlicherweise - auch künstlerisch, nämlich mit Theaterspielen. Das ist sinnstiftend, ja persönlichkeitsstärkend und läßt Hoffnungen keimen: Unverbogen, froh und munter werden sie die Zukunft in die Hand nehmen, diejenigen, die jetzt beim 15. Theatertreffen der Jugend in Erscheinung treten.

Sie sehen aus wie blankgeputzte Engelchen, manchmal mit wildem Haar und jugendlich-trotzigem Blick, dennoch unschuldig und mit modischen Accessoires behangen. Auf der Bühne versrühen sie einen naiven, unbekümmerten Charme, wie er auf den Bühnen der Off-Szene meist schmerzlich vermißt wird. Die Theatergruppe des Berliner Robert-Koch-Gymnasiums (Kreuzberg) "The Wild Bunch" ist das beste Beispiel dafür: Die SpielerInnen sind zwischen 13 und 23 Jahren alt und wickeln einen mit dem Märchen "Die kluge Jungfer" zum Auftakt listig, mit Witz, Tempo, Ironie und vor allem Lust am Spiel und Stilbruch gnadenlos ein.

Nach dem Spiel überrascht man diese Jugend dann in eifrigen Diskussionen über das Theater und manchmal mitten im Austausch wilder, erstmals öffentlichlich demonstierter Knutscherei. Zen von 188 schauspielernden Schulgruppen, das heißt 150 Jugendliche zwischen neun und 25 Jahren, sind aus Städten und Provinzen, sicher teils sorgenvoll von den Eltern entlassen, in den Großstadtmoloch Berlin gereist, um ihr Bestes zu geben - oder, um es mit den Worten der Leiterin des Treffens, Dr. Christel Hoffmann, zu sagen, zwecks "Standortbestimmung des Schultheaters und der Theaterpädagogik."

Ach ja, richtig, die Pädagogik!

Die Verbindung Schule und Theater klingt nach strengster Auslegung Schillerscher Ansachuungen, nach Erziehung hoch zwei. Zur Lust am Spiel gesellt sich flugs die Last - daß uns das keiner vergesse! Das Theater als Therapie mit aktuellem Stundenplan verzeichnet die unbestritten wichtigen Themen Gewalt(verhinderung), soziale Ausgrenzung und Ausländerfeindlichkeit. "Wir sagen Nein zur Ausländerfeindlichkeit! Nous disons non au rassisme!" Das proklamiert denn auch die Vier-Länder-Gruppe "Quatre-Quarts" im Prolog ihres Stückes "Trait d'union - Verbindungsstriche", in der es improvisatorisch und pantomimisch um soziale Ausgrenzung geht.

Und dann ereignet sich spät in der Nacht in der Berliner U-Bahn, nicht auf der Bühne, folgende Szene: Ein betrunkener "junger Herr", ein sogenannter Red-Skin (mit Aufnäher "Gegen Nazis"), beginnt zu pöbeln, zu schlägern, schließlich tritt er seinem Nachbarn mit Springerstiefeln gegen die Schläfen. Einfach so. "Wir waren froh, daß wir gerade an einer Haltestelle waren und nichts wie raus konnten", so einer der Leiter der Gruppe "Quatre-Quarts" in der Diskussion nach er Aufführung. In Berlin müsse man sich ja nur in die U-Bahn setzen , da bekomme man Anregung genug...

Das echte Leben auf der Bühne, das macht sich immer gut - aber was tun im echten leben, so die Frage aus dem Publikum. Einschreiten? So, wie es vorher auf der Bühne gezeigt wurde? "Da kann man doch nichts ausrichten, da muß schon die Polizei her", wehrt sich einer der Jugendlichen gegen die Vorwürfe. Sein Leiter ergänzt: Der Punkt sei doch, daß es nach dieser (seiner) von Gewalt befreienden Theaterarbeit irgendwann kein gewalttätiges Einschreiten mehr brauche, da solche Szenen nicht mehr vorkämen...

Selbst wenn man der Vier-Länder-Gruppe aus Belgien, Deutschland, Frankreich und Luxemburg und auch der deutsch-polnischen Gruppe (Phönix-Theater, Berlin und Teatr Klaps, Bialystok) zugugte hält, daß sie aufgrund schwieriger Probenverhältnisse (keine gemeinsamen Ferien oder schulfreie Samstage), zu kurzer Porbezeiten und der Sprachbarrieren im Workshop-Stadium steckengeblieben waren und auf einfache Bilder zurückgreifen mußten (kritisiert wurden trippelnde Chinesen und rundum gute "Ausländer" bei den Quatre-Quarts), bleibt eine Frage - unausgesprochen - das Festival über präsent: Wieviel aufrechte moralische Hilfestellung, wieviel Zeigefingerpädagogik vertragen ein Schüler- oder Jugendtheater? Und wieviel politischen (Einigkeits-) Demonstrationswillen vertragen ein Theatertreffen und vor allem die betreffenden Gruppen, Spielerinnen und Spieler? Beider Gruppen Spiel nämlich verbreitete - vor allem angesichts der brav vordergründig demonstrierten und politisch voll korrekten Botschaften - meist eine gewisse Langeweile. Zu sehr war die lenkende Hand der Pädagogen zu spüren, und zu groß war die künstlerische Kluft zu den anderen geladenen Inszenierungen. Für Dr. Christel Hoffmann rechtfertigt jedoch die Standort-Frage (s.o.) die Einladungen: "Wir wollen schließlich zeigen, was alles im Schultheater gemacht wird. Und natürlich war es auch eine politische Entscheidung, diese grenzüberschreitenden Projekte einzuladen." Wie beim "großen" Theatertreffen entscheidet also das wunderbar dehnbare Merkmal "bemerkenswert" über die Einladung.

Wirklich bemerkenswert und spannend wird es jedoch erst da, wo ein lebendiges, dreistes Spiel wie bei "The Wild Bunch" entstehen kann. In der Regie von Ilka-Cordula Felcht bleibt der "unverbogene" Spaß spürbar, der auch die dunklen Seiten der Spieler zuläßt. Zum Beispiel eben Aggressionen - "und das muß man auch zeigen, daß Gewalt eine Faszination hat", so Marcel. Auch Christin "turnt es total ab, wenn es auf dem Theater immer so brav und eindeutig zugeht."

Dennoch hat ihr Spiel eine "befreidene", mit Konventionen brechende "Botschaft": Die Jungfer braucht partout drei Männer. Auch der Bewegungstheatergruppe der Ziehenschule Frankfurt/Main geht es in "Meinwärts" um Frauenbefreiung. Neun Schülerinnen, von der Punkerin bis hin zur Architektin, Schauspielerin, Hausfrau, "Verrückten" und der wunderbaren "kleine Geliebten", winden sich im Tanz mit ihren Stühlen und unter strenger Choreographie aus ihren Fesseln. Zum Kampf und zeitweisen Scheitern sprechen sie Texte von Tschechow, borchert, Moholy-Nady, Picasso und Cowling. Auch das könnte ein schulmeisterlicher Keulenschlag sein, doch die Ideen der Gruppe und die Regie des einzigen Mannes waren klüger: Sie setzten auf intelligente Sinnlichkeit.

(...)

 Petra Brändle
die tageszeitung
2.6.1994


Ich will alle drei, ...

das ist der Wunsch "der klugen Jungfer". Drei Freier hielten nämlich vor ihrem Vater um ihre Hand an, und nun soll sie sich entscheiden. Welchen wählt sie aus? Sie läßt ihren Willen, alle heiraten zu wollen, verkünden. Unter uns hegen sehr wahrscheinlich auch einige solch einen Wunsch. Der Vater schickt nun alle drei auf den Weg etwas Außergewöhnliches und Einzigartiges zu finden. Inzwischen wird unsere schöne Jungfer ermordet. Ein Anbeter ihrerseits sieht dies durch einen erworbenen Spiegel, der eine Person freier Wahl zur Beobachtung stellt. Der zweite fliegt daraufhin samt seinen Konkurrenten mit Hilfe eines fliegenden Teppichs, der die Form eines Koffers hat (oder hat sonst der fliegende Koffer die Form eines Teppichs??? d. Säzzer...), zu ihrer Angefreiten, um dann den dritten einen Trunk verabreichen zu lassen, der Tote zum Leben erweckt. Dies ist der Beweis: die kluge, schöne und manchmal auch dickköpfige, in unseren Augen nachstrebenswerte Jungfer braucht im Endeffekt alle drei Männer!

Die Gruppe meint über sich, daß sie durch mitunter 13-jährigen frischen Schwung in die Theaterstücke bekommen. Als schade empfand ich es daher, daß ich oft den Sinn mancher Handlungen nicht verstand. Beispielsweise führten drei Engel durch das Stück, ihren eigentlichen Daseinsgrund enträtselte ich nicht. Ein weiblicher Engel schien von einem der Freier hingerissen zu sein und flirtete so aufeinmal auf der Erde. Ein zweiter, der fortwährend zwei Flügel vor dem Gesicht trug, erschoß die Jungfer von seinem aufgebauten Himmel während eines Streites mit dem Vater mit einem Revolver. Seltsam schien mir, daß jedem zusätzlich zu seiner Rolle eine Art Erzählersatz in den Mund gelegt wurde. Die tolle schauspielerische Leistung der Theater-AG des Robert-Koch-Gymnasiums faszinierte mich. Insgesamt eine gelungene Aufführung.

 Julia Glasewalk
Arterie
29.05.1994


I'M SO HAPPY oder EIN WILDER HAUFEN

Wild, bunt, schrill - und sonst nichts weiter?

Zumindest war's ein toller Spaß.

Eine wilde Jungfer, drei dämliche Freier, ein paar Engel (die Flügel auf dem Rücken oder in der Hand), dann noch der Vater, der wohl auch eine ganze Menge unbefriedigter Bedürfnisse hatt, eine lüsterne Hexe, Postbotin und Kellnerin, ein alter Mann mit einem geheimnisvollen Koffer, noch ein paar Statisten...

Ein Märchen, wie es schöner nicht sein konnte. So ausgelassen und voller Energie, unkonventionell in jeder Hinsicht, untermalt von fröhlicher Musik, es war einfach - erfrischend.

Kommen wir nun zu der Frage "Was wollte uns dieses Theaterstück sagen?" Also, die Intention war folgende:

...Die Moral von der Geschichte: Leb' den Leben, sei fröhlich, nimm dir so viele Freier wie du brauchst, nimm alles nicht ganz so ernst, vergiß diese ganzen düsteren, tiefgründigen, wahnsinnig anspruchsvollen Theaterstücke, davon gibt's doch eh' schon genug...

THE WILD BUNCH machen Theater, weil es ihnen Spaß bringt, nicht mehr und nicht weniger.

Man muß ja nicht an jedes Theaterstück - besonders wenn es von jungen Leuten gemacht wird- den Anspruch stellen, irgendeinen tieferen Sinn zu beinhalten.

WILD BUNCH ist eben WILD BUNT BUNCH, das ist ihr Stil, und zumindest auf mich hatte ihr Stück eine wohltuende, entspannende Wirkung (nach den für mich teilweise etwas deprimierenden KIND SCHREIT - Verunglimpfungen).

Ach ja, und dann war da noch der Engel, auf dessen T-SHIRT geschrieben stand: "I'm not a tourist, I'm living here".

Kein Kommentar.

Sebastian Wallmann
Arterie
29.05.1994

 
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